Dezember 27, 2012

Kanadas „Ahornfrühling“

Ingar Solty

Vom Quebecer Bildungsstreik zur Bewegung gegen den Neoliberalismus

Der Bildungsstreik von Quebec 2012 ist ein Lehrstück eines erfolgreichen Kampfes gegen die Austeritätspolitik.

Provoziert wurde der Streik durch die Ankündigung der regierenden Parti libéral du Québec (PLQ) von Premierminister Jean Charest, die Studiengebühren bis 2017 um 75 Prozent, von 2168 auf 3793 Kanadische Dollar (CAD) pro Jahr, zu erhöhen. Es war nicht das erste Mal, dass eine liberale Regierung eine solche Erhöhung beschloss. Bereits im Zuge der neoliberalen Hochphase hatte die PLQ 1994 eine drastische Erhöhung durchgesetzt. Seit 1968 waren die Studiengebühren bei 540 CAD eingefroren gewesen; nun stiegen sie auf einen Schlag auf 1668 CAD. Weitere Anstrengungen, die Gebühren zu erhöhen, scheiterten dann 1996 und 2005 am Widerstand der Studentinnen und Studenten. Es gab allerdings kleinere Anhebungen der Gebühren, zuletzt 2007 durch die Regierung Charest.

Beim jüngsten Versuch argumentierte die Regierung, dass die Universitäten unterfinanziert seien und die globale Wettbewerbsfähigkeit Québecs eine Erhöhung erforderlich mache. Damit brachte die Regierung die Studierenden gegen sich auf. Dass die Regierung die Erhöhung mit einem Haushaltsloch begründete, war indes eine neue Qualität. Denn dadurch wurde sichtbar, dass das eigentliche Ziel darin bestand, die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Studierenden abzuwälzen.

Der Widerstand setzt sich vor allem aus zwei Gruppen zusammen. Die erste besteht aus jenem Teil der Studierenden, der in der Erhöhung der Studiengebühren eine langfristige neoliberale Agenda am Werk sieht, deren Ziel die nachhaltige Transformation der Bildung zu einer warenförmigen Dienstleistung und die Ausrichtung der Hochschulen an den Interessen der privatkapitalistischen Wirtschaft ist.Bildung sei dagegen ein soziales Recht, und Demokratie erfordere freien Zugang zur Bildung. Entgegengestellt wird die „humanistische“ der „Supermarktuniversität“.2 Dabei kann sich diese Gruppe darauf berufen, dass Kanada 1976 den „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ der Vereinten Nationen ratifiziert hat, in dem das Recht auf ein gebührenfreies Studium verankert ist.

Die erste Gruppe akzeptiert nicht, dass zukünftige Lohnabhängige sich für die Kosten der Qualifizierung ihrer Arbeitskraft als Ware verschulden. Sie vertritt eine antineoliberale bzw. gar antikapitalistische Perspektive.

Aber auch für viele Studierende der zweiten Gruppe, die dem Neoliberalismus nicht grundsätzlich gegenüberstehen, war die Argumentation der Regierung nicht stichhaltig. Denn wenn Bildung, wie Neoliberale gerne betonen, in der „Wissensgesellschaft“ der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, dann darf sie erstens nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Zweitens lohnt sich – selbst in der Logik der Neoliberalen – die Investition des „Arbeitskraftunternehmers“ in seine Ausbildung nicht mehr. Dass die Löhne der Hochschulabsolventen seit Jahren stagnieren, hat zur Entstehung eines akademischen Prekariats wesentlich beigetragen. Auch diese Studierenden sehen bei abnehmenden Chancen auf einen gut bezahlten Job keinen Sinn darin, mehr für die Bildung zu bezahlen und sich zu verschulden.

Der Zusammenhang von Studienschulden und Prekarisierung

Besonders dramatisch zeigt sich dieser Zusammenhang in den USA. Hier sind die Studiengebühren zwischen 1978 und 2011 um 1120 Prozent gestiegen; insbesondere seit 2000 weist die Kurve steil nach oben.3 Zugleich sind die Reallöhne der 25-34jährigen mit Bachelor-Abschlüssen stark gefallen: Für Männer seit 2000 um 19, für Frauen seit 2003 um 16 Prozent.4 Dies hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass nur 21 Prozent der in der Krise verlorenen, aber 58 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor liegen.5 Die Studienschuldenblase hat deshalb mittlerweile ein Gesamtvolumen von mehr als einer Billion US-Dollar erreicht und wird von Ökonomen bereits als potenzielle nächste Hypothekenkrise gehandelt.

Aber auch in Kanada, wo die Studiengebühren nicht annähernd so hoch sind, verlassen knapp 60 Prozent aller Absolventen die Hochschule mit Schulden. Die durchschnittliche Verschuldung liegt bei 28 000 CAD, und die Rückzahlung beansprucht 14 Jahre.6 Angesichts der immensen Studienkosten lebt mittlerweile die Hälfte aller Studierenden unter 30 Jahren noch bei den Eltern. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil immer noch bei „nur“ etwa einem Viertel.

  Dass auch Konservative mit Blick auf die Studienschulden mittlerweile dringenden Handlungsbedarf sehen, hängt mit den Auswirkungen auf die Konjunktur und die Krise der sozialen Reproduktion zusammen. So schrieb „The Globe and Mail“, die bedeutendste konservative Tageszeitung Kanadas:

Eine Mischung aus flauer Wirtschaft, Geschmackswandel und demographischen Veränderungen wird in den USA herbeizitiert, um den Rückgang in Haus- und Autokäufen unter den jungen Leuten in ihren Zwanzigern und Dreißigern zu erklären. Die Studienschulden werden diesen Trend wahrscheinlich befördern. Man kann nicht ein voll funktionierender Player in der Wirtschaft werden, wenn ein Großteil des Lohns zur Abzahlung der Studienschulden abgeführt wird. Wir brauchen die heutigen Studentinnen und Studenten als die Großverdiener von morgen, und dabei geht es nicht nur darum, den Immobilienmarkt zu stützen, den Einzelhandel über Wasser zu halten und der Finanzbranche Kunden zu bieten. Irgendwer muss auch die Steuern bezahlen, die die Sozialprogramme für die alternde Nachkriegsgeneration finanzieren.7

Die Regierung verwies immer wieder darauf, dass die Studiengebühren in Quebec die niedrigsten in Nordamerika seien. Und tatsächlich liegen Gebühren und Schulden hier, wie die Medien nicht müde wurden zu betonen, „nur“ bei der Hälfte des nationalen Durchschnitts.

Offenbar hatte die Regierung in Québec City jedoch unterschätzt, dass dieser Umstand in der Bevölkerung als Grundlage eines demokratischeren Zugangs zur Hochschule betrachtet wird. Tatsächlich nehmen in jeder Alterskohorte rund zehn Prozent mehr ein Studium auf als im nationalen Durchschnitt. Besonders für die Ausbildung der Facharbeiter sind die CÉGEPs (Colleges, die in etwa den deutschen Fachhochschulen entsprechen) essenziell. Deshalb verfing die Argumentation der Regierung nicht – weder in Quebec noch in den anderen kanadischen Provinzen: In einer Umfrage gaben 62 Prozent der kanadischen Studierenden an, dass sie sich ebenfalls an einem Bildungsstreik in ihrer Provinz beteiligen würden.

Die Organisationen hinter dem Bildungsstreik

Vor diesem Hintergrund formierte sich kurz nach Ankündigung der Regierungsmaßnahme der Protest. Am 13. Februar 2012 trat die Studentenschaft in den Ausstand. Die Streikenden gründeten Streikkomitees, hielten Generalversammlungen ab, organisierten alternative Bildungsveranstaltungen und Bündnisse mit Organisationen und sozialen Bewegungen außerhalb der Hochschule. Von den insgesamt 400 000 Studierenden in der Provinz waren bis Mitte März insgesamt 300 000 im Streik.

Von besonderer Bedeutung war, dass die Streikbeteiligung nicht passiv blieb. Regelmäßig kam es zu riesigen Demonstrationen. Die größte fand am 22. März statt, als über 200 000 Menschen durch die Straßen von Montreal marschierten. Damit war die Demonstration die größte aller Zeiten in Quebec.9

Die Dynamik des Bildungsstreiks war allerdings kein Ausbruch spontanen Protests. Ohne die ihn tragenden demokratischen Studentenverbände wäre er nicht zustande gekommen. Die entscheidende Organisation war dabei die Coalition large de l’Association pour une solidarité syndicale étudiante (CLASSE), deren Lokalverbände den Streik anstießen. Die anderen drei Studierendenverbände – Fédération étudiante collêgiale du Québec (FECQ), Fédération étudiante universitaire du Québec (FEUQ) und Table de concertation étudiante du Québec (TaCEQ) – traten erst drei Wochen später in den Streik ein.

CLASSE ging 2001 (noch unter dem Namen ASSE) aus der globalisierungskritischen Bewegung hervor und repräsentiert in den Selbstverwaltungsstrukturen der 18 Hochschulen rund 44 000 Studierende, das entspricht Quebec-weit rund elf Prozent. Die Coalition ist nicht nur der aktivste, sondern auch der demokratischste Studierendenverband. Während FECQ und FEUQ sich an den Prinzipien der repräsentativen Demokratie orientieren und den lokalen Vollversammlungen vergleichsweise geringe Bedeutung beimessen, funktioniert CLASSE nach dem Prinzip der Basisdemokratie: Die Entscheidungen werden in den lokalen Vollversammlungen getroffen und dann qua imperativer Mandate von nationalen Delegiertenversammlungen koordiniert. Der strategische Ansatz der Organisation lässt sich so charakterisieren:

CLASSE rejects lobbying, as it perceives the interests of the state as irreconcilable with those of the students; it believes in creating leverage against the government through grassroots mobilization and various means of escalating pressure.

Dahinter steckt die realistische Einschätzung, dass der Staat im Kapitalismus nicht der Hüter des Allgemeinwohls ist. Im Namen der globalen Wettbewerbsfähigkeit senkt der neoliberale Staat die Kapital- und Unternehmenssteuern, privatisiert die Reproduktionsaufgaben (Bildung, Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege, etc.) und wälzt sie auf die (Arbeiter-)Familien (und hier besonders die Frauen) ab. Mit dem Wohlwollen der Regierung ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechnen; einzig und allein Widerstand und Gegenmacht können dieser Politik etwas entgegensetzen.

Der Erfolg des Quebecer Bildungsstreiks resultierte nicht zuletzt aus den Lehren aus vorangegangenen Auseinandersetzungen, vor allem dem Scheitern des Versuchs, 2007 einen Generalstreik gegen die Gebührenerhöhung zu organisieren. Die Bewegung zog daraus zwei Schlüsse: Zum einen würde man für den Erfolg die Einheit der Bewegung und zum anderen breitere Bündnisse organisieren müssen. Um auch kleineren lokalen Studentenverbänden die Mitarbeit zu ermöglichen, reorganisierte sich der Verband deshalb als Coalition.

Darüber hinaus beruhte der Erfolg des Bildungsstreiks 2012 auf der „Rote-Hand-Koalition“. Diese gründete sich 2009, nachdem Finanzminister Raymond Bachand einen Austeritätshaushalt verkündet hatte, der – in den Worten des Studentenführers Gabriel Nadeau-Dubois – der erste Haushalt war, der „den Sozialstaat frontal angriff“. Die Rote-Hand-Koalition fungierte als Krisen-Widerstandsbündnis und sollte „nicht nur die spezifischen Maßnahmen, sondern auch die dahinterstehende Vision der Gesellschaft bekämpfen“ und blieb „für die sozialen Bewegungen der zentrale Ort der Koordination.“11

Insgesamt schlossen sich 125 Organisationen – Gewerkschaften aus dem Gesundheits- und Bildungssektor, Stadtpolitikkampagnen, Anti-Armutsinitiativen, Umweltorganisationen – der „Roten Hand“ an. Dieses Bündnis profitierte dabei auch von einer neuen Kampfbereitschaft in den Gewerkschaften. Auf dem Gewerkschaftstag der CSN, der zweitgrößten Gewerkschaft in Quebec mit 300 000 Mitgliedern im öffentlichen und privaten Sektor, hatte sich eine starke kämpferische Haltung herausgebildet, die mit der Forderung nach einem „sozialen Streik“ gegen die neoliberale Charest-Regierung einherging. In Montreal unterstützt der CSN-Regionalverband zudem die 2006 gegründete Linkspartei Québec Solidaire. Dass ASSE schon Jahre vor dem Streik das Bündnis mit den Gewerkschaften gesucht und die Zusammenarbeit intensiviert hatte, zahlte sich nun aus.12

Die Nationale Lehrergewerkschaft (FNEEQ) sowie CSN, die Centrale des syndicats du Québec (CSQ) und die Fédération des travailleurs et travailleuses du Québec (FTQ) sprachen sich von Anfang an gegen die Erhöhung aus. Für eine über das Symbolische hinausgehende Unterstützung waren den Gewerkschaften arbeitsrechtlich jedoch die Hände gebunden. Zu den neuen Kampfstrategien gehörte darum die individuelle Organisierung der Hochschullehrer im Bündnis „Profs contre la hausse“, dessen Aufruf insgesamt 674 Professoren und Lehrende unterzeichneten. Über dieses Bündnis konnten die Gewerkschaften den Streik nicht nur offener und flexibler unterstützen; es verlieh ihnen auch eine größere Legitimität in den Medien, da hier nicht „die Gewerkschaften“ agierten, sondern ein „Bürger“-Zusammenschluss „echter“ Hochschullehrer. Mit den Organisationen im Rücken profitierten die Streikenden auch von spontaner Solidarität, etwa seitens der „mѐres en colѐres et solidaires“ („wütende und solidarische Mütter“).

Das Scheitern der Befriedungsversuche

Angesichts des massiven Widerstands sah sich die Regierung zu Gesprächen mit den Studierendenvertretern gezwungen. Im Austeritätszeitalter sind allerdings, wie CLASSE selbst feststellt, die Ziele der Regierungen und der Protestbewegungen grundsätzlich antagonistisch: Während die Regierungen Einsparungen auf Kosten der unteren Schichten durchsetzen wollen, streben die Protestbewegungen danach, ebendiese Einsparungen zu verhindern.

Das Ziel der Regierenden war es deshalb, der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man Gesprächsbereitschaft signalisierte. Anhaltende Gespräche bzw. „Verhandlungen“ erschweren die konfrontative Zuspitzung, auf der der Protest basiert, und führen daher zu einer schrittweisen Demobilisierung der Bewegung. Die Erfolgsaussichten der Regierungsstrategie waren also durchaus begründet. Denn im Gegensatz zu CLASSE verfolgten FECQ und FEUQ eine Lobby-Strategie, die darauf abzielte, die Regierung von einer studentenfreundlicheren Politik zu überzeugen. Deshalb waren die letzteren Verbände – anders als ASSE – während des Streiks 2005 auch von der Regierung zu Gesprächen eingeladen worden.

Doch FECQ und FEUQ hatten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie zogen sich aus den Verhandlungen mit der Regierung zurück und erhielten auf diese Weise die Einheit der Streikfront. Das scheinbare Entgegenkommen der Regierung, ihr Vorhaben der 80-prozentigen Erhöhung der Studiengebühren über sieben anstatt nur über fünf Jahre strecken zu wollen, verpuffte daher. Mehr noch: Für die Studierenden war dies geradezu ein Affront. Von nun an fanden in Montreal allabendliche Großdemonstrationen statt. Anfang Mai kam es dann am Rande des Parteitags der PLQ in Victoriaville zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Polizei, wobei zwei Studenten schwer verletzt und 106 festgenommen wurden. Pauline Marois, die Vorsitzende der oppositionellen Parti Québécois (PQ), kritisierte daraufhin das „autoritäre“ Vorgehen der Regierung.

Zeitgleich hatten Vertreter aller Verbände die Verhandlungen wieder aufgenommen. Obgleich die Regierung die Streichung von Sondergebühren etwa im Umfang des Gebührenanstiegs anbot, fiel die zentrale Forderung der Studierenden, die dauerhafte Einfrierung der Gebühren, unter den Tisch. Als das Ergebnis zur Abstimmung kam, distanzierten sich selbst die Verhandlungsführer von FEUQ und FECQ, und das Votum endete mit einer Katastrophe für die Regierung: An allen Hochschulen fiel der Deal durch. Am 14. Mai, vier Tage nach dem Scheitern, musste Bildungsministerin Line Beauchamp zurücktreten.

Anstatt die demokratischen Entscheidungen der Studierenden zu respektieren und mit dem Willen, auf ihre legitimen Forderungen einzugehen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, verabschiedete die Regierung am 18. Mai – zusammen mit den Stimmen der 2011 vom Milliardär Charles Sirois und dem früheren Air-Transat-Chef François Legault gegründeten rechtspopulistischen Coalition Avenir Québec (CAQ) – buchstäblich über Nacht das „Loi 78“, ein Ausnahmegesetz mit einjähriger Gültigkeit. Es beendete per Direktive das laufende Semester und schränkte die Versammlungsfreiheit ein. Die Polizei konnte mit dem schlichten Verweis auf die „innere Sicherheit“ alle Veranstaltungen untersagen, für die Universitäten wurde ein allgemeines Versammlungsverbot erlassen. Außerdem wurde das Streikrecht der Universitätsbediensteten stark eingeschränkt. Insgesamt zielte das Gesetz auf die Paralysierung der Hauptakteure und der Organisationen des Widerstands ab; Zuwiderhandlungen sollten mit hohen Geldstrafen geahndet werden.

Dieses Vorgehen spaltete die Bevölkerung in zwei Teile. So begrüßten Arbeitgeberpräsident Yves-Thomas Dorval und Teile der Bevölkerung das Gesetz. Andererseits wurde es von der politischen Opposition, den Gewerkschaften und dem Kanadischen Verband der Hochschullehrer (CAUT) verurteilt. Die Anwaltskammer lehnte das Gesetz ab und forderte die Regierung auf, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Der Vorsitzende der Quebecer Anwaltskammer, Louis Masson, bezeichnete das Gesetz gar als verfassungswidrig.

Studentenvertreter riefen zum zivilen Ungehorsam auf. In der Nacht nach Verabschiedung des Gesetzes kam es bei einer Demonstration zu heftigen Straßenschlachten mit der Polizei. Für Furore sorgte eine Webseite unter dem Motto „Arrêtez-moi, quelqu’un!“, auf der im Laufe der Zeit 5305 Fotos von Einzelnen oder Gruppen veröffentlicht wurden, die hier ihren Willen zum zivilen Ungehorsam bekundeten.

Vom Bildungsstreik zur Antineoliberalismusbewegung

Das Sondergesetz 78 entwickelte sich für die Regierung zum Bumerang. Auch viele Bürgerinnen und Bürger, die den Studentenstreik ursprünglich nicht befürwortet hatten, unterstützten nun die Proteste. Die Demonstration gegen die Gebührenerhöhung, die für den 100. Tag des Bildungsstreiks, den 22. Mai, in Montreal geplant war, verwandelte sich in einen Massenprotest gegen die Regierung. CSN, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes CUPE sowie die Linksparteien Québec solidaire (QS) und Option National unterstützten den Protest. Die Demonstration wurde zur mit Abstand größten in der kanadischen Geschichte: Über 400 000 Menschen – mehr als fünf Prozent der Bevölkerung Quebecs – marschierten durch die Straßen von Montreal. Quebec wurde zum Symbol für Bildungs- und Antiausteritätsproteste weltweit: Prominente Künstler wie Michael Moore und die Band Arcade Fire solidarisierten sich öffentlichkeitswirksam, und es gab Solidaritätsdemonstrationen in Toronto, Vancouver, New York, London und Paris.

Noch aber unterstützte laut Umfragen eine Mehrheit das Gesetz und die Studiengebühren. Es waren letztlich die repressiven Auswirkungen des Sondergesetzes, die die öffentliche Meinung kippen ließen. Allein am Abend des 23. Mai wurden 518 Demonstranten in Montreal, 150 in Quebec und 36 in Sherbrooke festgenommen. Insgesamt wurden zwischen Februar und September 3387 Personen inhaftiert. Die Regierung, die schon länger mit diversen Korruptionsskandalen zu kämpfen hatte, erschien vielen Québecois nun als unterdrückerisch und illegitim.13 Die Teilnehmerzahlen bei den allabendlichen Massendemonstrationen, die nun an verschiedenen Orten parallel stattfanden, vervielfachten sich.

Damit wandelte sich endgültig der Charakter der Bewegung: Aus dem Bildungsstreik wurde eine populäre Massenbewegung. Entsprechend erweiterten sich auch die Forderungen; thematisiert wurden nunmehr der Machtzuwachs der Finanzeliten, soziale Ungleichheit und die Zerstörung des öffentlichen Sektors. Treffend urteilte die Politikprofessorin Anna Kruzynski kurz nach dem 22. Mai:

Die Studiengebührenerhöhung ist Teil der neoliberalen Agenda […]. Sie ist nicht von anderen auf die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen abzielenden Maßnahmen isoliert […]. Was die Studierendenbewegung erreicht hat, ist, diese Debatte über die Frage der Studiengebühren hinaus in den Vordergrund zu bringen.14

Aus dem „kämpferischsten Bildungsstreik in der Geschichte Quebecs (und Kanadas)“15 wurde so die „stärkste Machtprobe mit dem Neoliberalismus auf dem ganzen Kontinent“.16 Die Bewegung wurde nun immer öfter als „printemps érable“, als Ahornfrühling (eine gleichzeitige Anspielung auf das Nationalsymbol, den Ahornbaum, und den Arabischen Frühling), bezeichnet.

In den Wochen nach der Großdemonstration vom 22. Mai dehnte sich der Protest auf fast alle Stadtbezirke Montreals aus. In verschiedenen Stadtteilen entstanden mit den Assemblées populaires autonomes de quartier Institutionen der Selbstverwaltung. Am 31. Mai – allein der Bildungsstreik war noch 150 000 Studierende stark – zog sich die Regierung schließlich aus den Verhandlungen zurück.

Bei den Neuwahlen am 4. September wurde die zunehmend unpopuläre PLQ dann erwartungsgemäß abgewählt. Premierminister Charest verlor sogar seinen eigenen Wahlkreis und trat infolgedessen als Parteivorsitzender zurück. Die PQ wurde mit 32 Prozent der Stimmen und 54 der 125 Sitze (plus 7) stärkste Kraft in der Nationalversammlung Quebecs. Der Studentenführer Leo Bureau-Blouin wurde auf ihrem Ticket in die Nationalversammlung gewählt. Auch Québec Solidaire profitierte vom Ahornfrühling. Im Vergleich zu 2008 erhöhte die Linkspartei ihren Stimmanteil von 3,8 auf 6 Prozent. Damit etablierte sie sich als viertstärkste Kraft. In drei (separatistisch orientierten) Arbeiterbezirken Montreals erreichte sie gar einen Stimmenanteil von über 20 Prozent. In der Folge des Ahornfrühlings verdoppelte sich die Mitgliederzahl der Partei auf 13 000.

Der große Umschwung blieb allerdings aus, da die PLQ zwar deutlich verlor, die CAQ aber gleichzeitig zulegte, sodass die neue PQ-Minderheitsregierung auf Stimmen der rechten Opposition angewiesen ist. Am 20. September fror die neue Regierung die Studiengebühren ein. Außerdem kündigte sie an, das „Loi 78“ außer Kraft zu setzen (was allerdings nur in Zusammenarbeit mit PLQ und CAQ möglich ist).17

Die Lehren aus der Bewegung

Zunächst einmal gilt es zu konstatieren, dass die Studentenbewegung mit dem „Ahornfrühling“ einen Sieg errang. Die von der Regierung angestrebte, drastische Erhöhung der Studiengebühren ist vom Tisch. Mehr noch: Die Proteste waren letztlich mitverantwortlich dafür, dass die Regierung aus dem Amt gejagt wurde. Dadurch erscheint es kurzfristig unwahrscheinlich, dass ein neuer Versuch zur drastischen Anhebung gestartet wird. Auch wenn der Erfolg zweifellos auch auf spezifischen Bedingungen beruht, lassen sich doch Schlussfolgerungen ziehen, die auch für Bewegungen außerhalb von Quebec relevant sind.

Erstens unterstreicht der Ahornfrühling, dass Widerstand gegen Austeritätspolitik durchaus Erfolg haben kann, weil er sich auf essenzielle sozialstaatliche Errungenschaften stützt, von denen eine große Mehrheit der Bevölkerung profitiert. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Bevölkerung diese Errungenschaften als Teil ihrer „Identität“ und der Identität des Landes begreift und die Bewegung sie als solche verteidigt.18

Zweitens ist die Erfahrung, dass sich Solidarität und kollektiver Kampf lohnen, im Kontext der wachsenden Arbeitsmarktkonkurrenz und individueller Lebensstrategien von großer Bedeutung. Jeder Erfolg zeigt, dass die herrschende Politik keineswegs „alternativlos“ ist. Denn diese Proteste machen den Staatshaushalt zum Politikum und belegen auf diese Weise, dass es immer Alternativen gibt – zumindest solange man sie erkämpft. Bester Beleg hierfür sind die insgesamt neun Bildungsstreiks seit 1968 und der auf sie zurückzuführende Erfolg, dass die Studiengebühren in Quebec heute die niedrigsten in ganz Nordamerika sind. Zugleich ist der erfolgreiche Kampf für freie Bildung eine Widerlegung der Verelendungstheorie: Denn die Erfolge der Quebecer Studierendenbewegung über die Jahrzehnte zeigen, dass nicht das „maximale Elend“ durch hohe Studiengebühren zu Bewegung führt, sondern – zumindest in diesem Fall – im Gegenteil die erkämpften Freiräume niedrigerer Gebühren Bewegung befördert haben. Hinzu kommt: Wer aufgrund des Studiums (oder auch aus anderen Gründen) hoch verschuldet ist, wehrt sich aus gesteigerter Angst vor Arbeitsplatzverlust auch weniger gegen die Zumutungen im Arbeitsalltag.

Drittens sind die Erfolgschancen der Proteste beträchtlich größer, wenn sie nicht nur auf Spontaneität beruhen, sondern auf eine langfristige Organisierung gründen. „Dieser Streik ist nicht das Ergebnis einer spontanen Welle revolutionärer Romantik. Er wurde über einen langen Zeitraum von Aktivistinnen und Aktivisten organisiert, die in den lokalen College- und Universitäts-Studierendenverbänden Unterstützung für den Streik mobilisierten.”19 Zudem wäre der Quebecer Bildungsstreik ohne die Vernetzung der sozialen Kämpfe im Rahmen der Rote-Hand-Koalition nicht so erfolgreich verlaufen. Auch hier gilt: Der spontane Protest wird erst dann voll wirksam, wenn starke Organisationen und ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte den Boden für ihre Entstehung bestellt haben.

Die Bezugnahme des „printemps Érable“ auf den „printemps Arabe“ war viertens ein wesentlicher Faktor für den Erfolg der Bewegung. Vor dem Arabischen Frühling schienen die politischen Verhältnisse nicht nur in der arabischen Welt versteinert zu sein. Seitdem haben die wechselseitige Bezugnahme der Bewegungen und die Internationalisierung der Symbole und Kampfformen die sozialen Kämpfe gestärkt. Die Verhältnisse sind in Bewegung geraten – es ist Zeit, dass wir sie zum Tanzen bringen.

1 Eric Martin and Simon Tremblay-Pepin, “Québec Students Teach the World a Lesson,” Canadian Dimension, May 2012, p. 21.

2 Louis-Philippe Véronneau, “De l’éducation humaniste à l’éducation marchande,” Presse-toi à gauche!, November 13, 2012.

3 Bloomberg, August 15, 2012.

4 New York Times, March 2, 2012.

5 Wall Street Journal, November 5, 2012.

6 Financial Post, September 5, 2012.

7 The Globe and Mail, August 29, 2012.

The Globe and Mail, May 7, 2012.

9 Andrea Levy and Fanny Theurillat-Cloutier, “Le Printemps érable: An Education in Dissent,” Canadian Dimension, May 2012, p. 20.

10 Martin Robert, “The Organizations Behind Québec’s 2012 Student Strike,” Canadian Dimension, May 2012, p. 28.

11 Gabriel Nadeau-Dubois, “Student Strike, Popular Struggle,” People’s Voice, June 1, 2012.

12 1980 hat der CSN dem Klassenkampf offiziell abgeschworen, steht allerdings im Ruf, die am weitesten links stehende Gewerkschaft zu sein. Seit 1990 ist sie offen separatistisch, tritt also für die Loslösung der Provinz von Kanada ein.

13 Sabine Friesinger, “Reporting the Strike: Campus Television Embeds Itself in the Student Movement,” Canadian Dimension, May 2012, p. 25.

14 Cited in Democracy Now, May 25, 2012.

15 Levy and Theurillat-Cloutier, ibid., p.19.

16 Guardian, May 5, 2012.

17 Richard Fidler, “Quebec’s Election: An Initial Balance Sheet,” The Bullet 695, September 12, 2012.

18 Dacid Camfield, “Quebec’s Red Square Movement,” The Bullet 680, August 13, 2012.

19 Robert, ibid., p. 28.


Verbunden